Vielfalt verstehen: Palliative Care im Migrationskontext

Vielfalt verstehen: Palliative Care im Migrationskontext

Die Behandlung und Begleitung von Menschen am Ende ihres Lebens stellt hohe Anforderungen an Fachpersonal und freiwillige Begleitpersonen. Im Migrationskontext können belastende Faktoren diese Arbeit erschweren. Umso wichtiger ist es, Fachpersonen zu sensibilisieren und ihnen unterstützende Tools zur Verfügung zu stellen.

Autor:in

Nathalie Gerber, Fachexpertin "Alter und betreuende Angehörige", Schweizerisches Rotes Kreuz

Migrationssensibles Handeln erfordert einen konstruktiven Umgang mit Vielfalt. Um die Herausforderungen einer diversen Gesellschaft zu meistern, braucht es sowohl Wissen über Migration, Ausgrenzung und Benachteiligung als auch die Reflexion der eigenen Lebenswelt.

Bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Migrationserfahrung haben aufgrund individueller oder struktureller Merkmale oft nur eingeschränkten Zugang zu Palliative-Care-Angeboten. Damit sich die Lebensqualität in der letzten Lebensphase für diese Menschen verbessert, braucht es eine Sensibilisierung von Fachpersonen und Freiwilligen sowie adäquate Informationen.

Lehrmodul entwickelt

Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) hat langjährige Erfahrung in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationserfahrung und verfolgt das Ziel, allen Menschen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verschaffen.
Deshalb hat das SRK vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Auftrag erhalten, Schulungsmaterialien für migrationssensibles Handeln zu entwickeln.

Fachpersonen und Freiwillige gestärkt

Im Rahmen dieses Auftrags wurden bereits existierende Materialien überarbeitet und neue geschaffen, um die komplexen Zusammenhänge in einer diversen Gesellschaft verständlich zu machen. So werden Fachpersonen und Freiwillige aus verschiedenen Settings der ambulanten und stationären Palliative Care in ihrer professionellen Begegnung mit den betroffenen Bevölkerungsgruppen gestärkt.

Das Lehrmittel «Migrationssensible Palliative Care» beinhaltet kurze Theoriesequenzen und praktische Übungen. Die Inhalte können in Gruppensettings oder in der individuellen Weiterbildung angewendet werden und richten sich an verschiedene Berufsgruppen. In fünf Schwerpunkten werden migrationsspezifische Aspekte beleuchtet:

  • Migrationssensibles Handeln
  • Migrationssensible Kommunikation in der Palliative Care
  • Unterschiedliche Vorstellungen von Krankheit, Sterben und Tod
  • Angehörige und Entscheidungsfindung
  • Religion, Spiritualität, Rückkehr ins Herkunftsland

Das Lehrmodul ist kostenlos auf migesplus.ch/pc-de in Deutsch, Französisch und Italienisch verfügbar.

Die Bedeutung von migrationssensiblem Handeln

Migrationssensibles Handeln bedeutet, Stereotypen hinter sich zu lassen und das Individuum ins Zentrum zu stellen. Es ermöglicht, professionell auf die Bedürfnisse von Menschen in unterschiedlichen Lebenswelten einzugehen.
Menschen teilen am Ende ihres Lebens dieselben universellen Bedürfnisse: Sie wünschen sich ein schmerzarmes Lebensende und möchten die Zeit bis dahin mit nahestehenden Personen verbringen. Bei Menschen mit Migrationserfahrung können jedoch noch spezifische Umstände hinzukommen: die Kommunikation in der eigenen Sprache, der Kontakt mit Familie und Freunden aus dem Herkunftsland oder die unterschiedlichen Vorstellungen von Sterben und Tod.

Das eigene Handeln reflektieren

Selbstreflexion der Fachpersonen und Betreuenden ist eine zentrale Voraussetzung für die migrationssensible Begleitung. Denn unsere eigene Lebenswelt prägt unsere Sichtweisen und Wertvorstellungen mehr, als wir uns bewusst sind. Verhalten, das wir nicht einordnen können, kann Unsicherheit, Überforderung oder sogar Misstrauen auslösen. Dem können wir begegnen, in dem wir mehr über Migration, Ausgrenzung und Benachteiligung lernen und anderseits unser eigenes Handeln, unsere Lebenswelt und unsere Werte regelmässig reflektieren.

Kommunikation als zentrales Element

In der Praxis helfen neben Offenheit, Neugierde und Empathie auch bestimmte Fragetechniken, um das Gegenüber besser zu verstehen und ihm das Gefühl zu vermitteln, verstanden zu werden. Beispielsweise offene Fragen, Spiegelungsfragen oder zirkuläre Fragen. Letztere beziehen den Kontext der Person mit ein und ermöglichen so einen besseren Überblick.

Das Erfassen der Gesamtsituation ist von grosser Wichtigkeit. Nebst einer guten Gesprächsführung gilt es gezielte Fragen zu stellen. Dazu stehen verschiedene Fragenkataloge zur Verfügung.

Die Fragen helfen Fachpersonen und der erkrankten Person, ihr subjektives Erleben und ihre Vorstellungen mitzuteilen. Sie zeigen den Betroffenen, dass sich die Fachperson für ihre Situation interessiert und sie ernst nimmt.

Verständnis von Krankheit, Sterben und Tod

In einer vielfältigen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Vorstellungen vom Sterben. Es ist wichtig, diese individuellen Perspektiven zu klären und auf die Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen. Schlüsselpersonen aus den jeweiligen Gemeinschaften können hierbei unterstützend wirken. Sie können in einer Gemeinschaft dazu beitragen, Unverstandenes zu erklären. Beziehungen zwischen Institutionen des Gesundheitswesens und Schlüsselpersonen aus den «Communities» sind bislang kaum institutionalisiert und müssen oft zuerst hergestellt werden.

Spirituelle Einstellung und Überzeugungen

Bei schwerer Erkrankung sind spirituelle Fragen und Überzeugungen oft von grosser Bedeutung. Unter Spiritualität verstehen wir den persönlichen Weg dazu, Grenzerfahrung zu bewältigen und herauszufinden, was einen trägt und Sinn stiftet. Spiritualität kann so für alle Beteiligten zu einer bedeutsamen Ressource werden.

In der Praxis geht es also darum, frühzeitig zu erfragen, welche Wünsche die Betroffenen und ihre Angehörigen haben, und ob sie bestimmte religiöse, spirituelle oder soziale Praktiken beachten möchten. Dies erfordert viel Einfühlungsvermögen, Mut und eine gute sprachliche Verständigung.

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